Fast alle Schüler haben ihr Smartphone fast immer zur Hand. Bild: A. Bubrowski/CJD Oberurff
Fast alle Schüler haben ihr Smartphone fast immer zur Hand. Bild: A. Bubrowski/CJD Oberurff

Dass der Hungerruf nach neuen Medien im Unterricht fast ein alter Hut ist, verdanken wir ausgerechnet einem von vielen Pädagogen und Psychologen beklagten Umstand: der fast vollständigen Ausstattung der Schüler mit Smartphones. Mal eben spontan eine Internet-Recherche (Geschichte)? Mal eben eine Weg-Zeit-Messung oder (mit Vorbereitung und Eichung) eine Messung der radioaktiven Belastung (Physik)? Schnell gecheckt, wie der Graph einer Logarithmusfunktion aussieht (Mathema­tik)? Alles kein Problem mehr. Und alles, ohne dass der Schulträger auch nur einen Euro dafür investieren musste oder Datenschutzhaftung übernehmen müsste.

Not der Handyhörigkeit mancher Schüler –
aus Sicht der Unterrichtsdidaktik eine Tugend

Wenn an Schulen von „neuen Medien“ die Rede ist, wird oft mit als Erstes Microsofts „PowerPoint“ erwähnt. Also eine Software, die seit etwa 1990 [sic!] weltweit zum Standard für PC-gestützte Präsen­tationen gehört. Mit einem viertel Jahrhundert auf dem elektronischen Buckel ist die Software also eher ein Dinosaurier mit Tendenz zum Fossil. Vor allem webbasierte Animationswerkzeuge machen dem „IT-Dino“ zunehmend den Rang streitig. Tatsächlich ist die Not der Handyhörigkeit mancher Schüler aus Sicht der Unterrichtsdidaktik eine Tugend, da sie dem Schrei nach „neuen Medien“ in der Schule zumindest teilweise etwas von seiner Dringlichkeit nimmt. Um zum Beispiel die im Geschichts­unterricht spontan auftauchende Behauptung eines Schülers zu klären, schon im alten Rom hätte es Hochhäuser gegeben, braucht es keinen Computerraum und keinen Klassensatz Tablets. Die uner­wartete Aufforderung durch den Fachlehrer, am eigenen Handy JETZT und SELBST zu recherchieren, lockert nicht nur den Unterricht auf, sie hat bei den Schülern auch einen motivierenden Effekt.

Scheinbar „nebenbei“ kann der Fachlehrer jetzt auch medienpädagogisch arbeiten. Er könnte etwas über Suchmaschinen sagen und empfehlen, einmal eine andere als GOOGLE zu benutzen. Er könnte mit Augenzwinkern warnen, nicht heimlich Fotos zu schießen (Bildrechte). Er könnte auch vor dem Versenden der Rechercheergebnisse mit einem kommerziellen Instant Messenger wie WhatsApp warnen (Risiko des Absaugens von im Handy gespeicherten Daten). Alles eher spielerisch nebenbei und ohne den mahnend erhobenen Lehrer(zeige)finger1.

Twitter – Inspirationsquelle für den Fachunterricht2

Im naturwissenschaftlichen Fachunterricht stehen zahllose kostenfreie Apps zur Verfügung, die sich gezielt in der Unterrichtspraxis nutzen lassen. Etwa ein eigentlich trockenes Thema wie „geradlinig gleichförmige Bewegung“ kann so plötzlich zum „neumedialen“ Ereignis werden, wenn die Schüler mit ihren Smartphones Weg-Zeit-Messungen durchführen und – wenn sie ihr „Telefon“ beherrschen – auch Geschwindigkeiten berechnen, graphisch darstellen und den Graphen als Ausdruck in ihrem Versuchsprotokoll integrieren (Gymnasium 8).

In Klasse 9 (Gymnasium), wenn (im CJD Oberurff) in Physik Farben behandelt werden, können Schüler mit Hilfe des eigenen Handys und und Apps wie RGB COLOR MIXER (Android) additive und subtrak­tive Farbmischung selbst entdecken. Besonders spannend wird es in der 10 bei RADIOAKTIVITÄT. Schüler können herausfinden, wie sich mit dem Smartphone der radioaktive Zerfall in ihrer Umgebung messen lässt. Dazu haben sie – schöner Querverweis zu Chemie – zu realisieren, dass der Kamerasensor ihres Handys, wenn er denn auf einem CMOS-Sensor3 basiert, mit Hilfe einer App und einem kleinen Umbau am Gerät zur Detektion ionisierender Strahlung geeignet ist.

Tafelbild mit besonders gelungenem Rechenbaum. Foto: Inka (5a)
Tafelbild mit besonders gelungenem Rechenbaum.
Foto: Inka (5a)

Wenn in Mathematik 5 etwa ein Mitschüler einen besonders eindrucksvollen Rechenbaum mit Kreide an die Tafel malt, der es wert ist, allen Schülern zur Verfügung gestellt zu werden, dann haben in weniger als drei Minuten 80 Prozent der Schüler nach Aufforderung durch den Lehrer ihr Smartphone in der Hand, hoffend, dass IHR Gerät als erstes hochfährt. Dann wollen von den 80 Prozent am liebsten alle das Tafelbild fotografieren. Gut möglich, dass aber nur EINE Schülern dann auch in der Lage ist, das Bild zu versenden. Auch hier wieder eine schöne Gelegenheit unprätentiös darauf hinzuweisen, das Bild NUR über in der Klassengruppe im geschützten schuleigenen Sozialen Onlinenetzwerk zu verteilen und auf keinen Fall mit kommerziellen Datensammlern zu verschicken.

Sicher könnten auch die anderen Fachbereiche über ähnliche digitale Unterrichtshilfen berichten, zu deren Nutzung die Schule weder Endgeräte zur Verfügung stellen noch sich über die Datenschutz­haftung sorgen muss. Warum? Seit gut zwei Jahren erreichen mehrere Mobilfunkanbieter mit ihrem Service auch das CJD Oberurff. Die Haftung für das, was Schüler mit ihren Geräten tun, liegt bei den Eltern, wenn wir Lehrer ansonsten unserer Aufsichtspflicht gemäß „Handyordnung“ nachkommen. Ist damit die Schule von der Pflicht zur Bereitstellung zeitgemäßer elektronischer Unterrichtsmittel („neue Medien“) befreit? Natürlich nicht, wie man am Beispiel Mathematik (Gymnasium, Klassen 7 bis 10) sehen kann.

Beispiel Mathematik: Bedarf an elektronischen Arbeitsmitteln gemäß Curriculum (7 bis 10)

„Taschenrechner und PC sind im Mathematikunterricht verbindlich einzusetzen. Sie dienen einerseits als Hilfsmittel, zur Lösung rechenintensiver Aufgaben und schaffen dadurch Zeit für mathematisches Handeln. Andererseits sollen die Möglichkeiten genutzt werden, mit diesen Medien neue Zusammenhänge – im Sinne einer dynamischen Geometrie – zu entdecken.

  • Klasse 7
    Lösung von Aufgaben zur Prozentrechnung mittels Tabellenkalkulationsprogramme, graphische Darstellungen (Kreis-, Balkendiagramm); Konstruktion von Figuren mittels Geometrieprogramme
  • Klasse 8
    Komplexere Berechnungen, etwa zur Kapitalverdoppelung; Tabellenkalkulation zur Bearbeitung größerer Datenmengen, Generierung von Zufallszahlen
  • Klasse 9
    Vertiefung algebraischer Techniken im Zusammenhang mit realitätsbezogenen Anwendungen; Darstellung von Bruch- und Wurzeltermen
  • Klasse 10
    Numerische Algorithmen (z. B. iterative verfahren zur Wurzelbestimmung); Exponential- und Wurzelfunktionen – für die kalkulierten 30 Unterrichtseinheiten wird der PC-Einsatz als erforderlich (und damit voraussetzend) angesehen.“

Diese Lehrplananforderungen lassen sich nicht mehr nur mit Apps auf schülerbezogenen Endgeräten bildungsstandardgerecht erfüllen. Hier muss – oder müsste – für allen Klassen ein kontinuierlicher Unterricht in einem „elektronischen Labor“ angeboten werden. Solche Labor-Klassenräume benötigen Klassensätze von mit entsprechender Standard-Software ausgestatteten Endgeräten, die heutzutage zum Glück keine klobigen Untertisch-PC-Kisten mehr sein müssen. Und hier muss an den meisten Schulen – auch bei uns – weiter nach Realisierung gerufen werden. Dabei gilt der Ruf weniger „neuen Medien“, denn was heute als neu verkauft wird, ist in einem halben Jahr schon Schnee von gestern4, sondern eher den gemäß Lehrplananforderung ausgestatteten „elektronischen Laboratorien“. Im CJD Oberurff wurde der Ruf erhört. Etwa bei der Planung zum Umbau des naturwissenschaftlichen Traktes. ANDREAS BUBROWSKI

  1. Im Sinne von Chancengleichheit ist dabei auf die in der Regel kleine Zahl von Schülern zu achten, die KEIN Smartphone besitzen oder dieses nur eingeschränkt benutzen dürfen. Bewährt hat sich, von vornherein diese Schüler mit einem Ausdruck zu versorgen.
  2. ACHTUNG! Die Twitter-App auf Android und iOS liest neuerdings installierte Anwendungen auf dem verwen­deten Gerät aus. Twitter daher besser im Web-Browser checken!
  3. CMOS – Complementary Metal Oxide Semiconductor
  4. Die Produktzyklen von Endgeräten liegen im unteren einstelligen Montabsbereich. Eine ausgeprägte Hardwarefixierung schränkt zudem den Entscheidungsspielraum der Schule für neue Software-Innovationen ein.