Interview mit Markus Brettschneider, Jugendkoordinator Polizeidirektion Schwalm-Eder

So schlimm sind Welt und Jugend gar nicht, wie die Berichterstattung der Medien es oft vermittelt. Zumindest im heimatlichen Hessen ist das Straftataufkommen seit Jahren rückläufig. Allerdings liegt der Anteil minderjähriger Tatverdächtiger bei konstant hohen 30 Prozent, so der Jugendkoordinator der Polizeidirektion Schwalm-Eder, Markus Brettschneider, im Interview mit CJD-UPDATE.

xl_brunnerDer Tatort am Bahnsteig in München Solln am 19. September 2009. Selbst sechs Tage nach der Tat legen Menschen Blumen ab, zünden Kerzen an und hinterlassen Briefe. Auch am gegenüberliegenden Bahnsteig befindet sich eine Gedenkstelle ähnlichen Umfangs1.
Foto: Alexander Kerschhofer

Zwar wird man im ländlichen Nordhessen kaum auf Schläger in öffentlichen Verkehrsmitteln treffen, weil eine entsprechende Infrastruktur städtischen Ballungsgebieten vorbehalten bleibt. Aber gerade der Schwalm-Eder-Kreis gerät immer wieder mit Übergriffen rechtsradikaler Schläger auf vermeintlich linke Passanten in negative Schlagzeilen. Und auch bei Partys gibt es gelegentlich Ärger, Dank Teufel Alkohol. Wie sich nun verhalten, wenn man Zeuge einer tätlichen Auseinandersetzung wird, vor allem wenn Jugendliche beteiligt sind? Die Empfehlung von Markus Brettschneider: „Nicht Wegschauen, aber auch nichts unnötig riskieren.“

CJD-UPDATE: Die Bürger werden von Politikern und Polizei zu mehr Zivilcourage aufgerufen. In Hamburg, München und jetzt auch in Frankfurt haben Passanten Courage gezeigt und sind selbst Opfer geworden. In Hamburg und München gab es je einen Toten, ansonsten Schwerverletzte. Hätten sie doch besser wegschauen sollen?

Brettschneider: Zuerst einmal muss ich sagen, dass wegschauen nie eine Lösung ist. Durch das Wegschauen verbleiben die Täter in ihrer Anonymität, welche sie in ihrem Handeln bestätigt. Insbesondere jugendliche Täter gehen davon aus, dass ihre Taten unentdeckt bleiben. Zivilcourage ist wichtig und richtig. Hier sollte man nicht vergessen, dass ein jeder Bürger die Verpflichtung hat im Unglücksfall beziehungsweise bei Gefahr zu helfen. Tut er dies nicht, kann er sich unter Umständen strafbar machen: Unterlassene Hilfeleistung § 323c StGB.

Helfen kann man auf die verschiedensten Arten, etwa allein durch Anrufen der Polizei oder durch Herstellen von Aufmerksamkeit. Sich direkt in eine Auseinandersetzung körperlich einmischen ist immer riskant und sollte wohlüberlegt sein. Als Einzelperson gegen eine Gruppe Jugendlicher anzutreten, kann sehr gefährlich sein, besser ist es, sich zuerst Helfer zu holen und dann mit mehreren Personen eingreifen. Die Art und der Umfang der Hilfe sind immer von der jeweiligen Situation abhängig. Die Möglichkeit, über Telefon die Polizei zu verständigen, hat in der heutigen Zeit fast jeder, da Handys weit verbreitet sind.

CJD-UPDATE: Streit mit und unter Jugendlichen entzündet sich häufig an Nichtigkeiten. Etwa weil die Musik im Headset zu laut ist. Wäre es nicht klüger, sich einfach woanders hinzusetzen, wenn einen der Lärm stört?

Brettschneider: Wenn diese Möglichkeit besteht, ist es auf jeden Fall klüger. Durch Aufmerksamkeit kann man sehr viele, sich anbahnende Konflikte schon im Voraus erkennen und diesen aus dem Weg gehen. Durch rechtzeitiges Wechseln der Straßenseite oder die Wahl eines anderen Sitzplatzes im Schulbus kann man mit einfachen Mitteln einem Konflikt ausweichen.

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Manic Street Preachers – If You Tolerate This2

CJD-UPDATE: Nehmen wir eine konkrete Situation: Ich beobachte an einer Bushaltestelle eine Rauferei. Was tue ich jetzt?

Brettschneider: Hier kommt es darauf an, wie alt die Raufenden sind. Bei Kindern kann man sich gegebenenfalls einmischen. Bei mehreren älteren Jugendlichen sollte man nicht allein eingreifen. Besteht die Möglichkeit, dass ich weitere Personen hinzuziehe, etwa aufsichtführende Lehrer, kann man gemeinsam die Rauferei beenden. Wie zuvor schon erwähnt, sollte man es vermeiden, sich als Einzelperson körperlich in die Rauferei einzumischen, um sich nicht selbst zu gefährden. Im Zweifel immer die Polizei verständigen.

CJD-UPDATE: Wann sollte ich den Notruf 110 wählen? Bei verbalen Beleidigungen, Spucken oder wenn der erste  Faustschlag ausgeteilt wird?

Brettschneider: Hier kommt es darauf an, wie sich die Gesamtsituation darstellt. Grundsätzlich kann man aber sagen, dass man die Polizei lieber einmal zu viel als zu wenig verständigt, zumal die meisten gewalttätigen Konflikte mit Beleidigungen anfangen.

CJD-UPDATE: Es heißt, unsere Gesellschaft würde mehr und mehr verrohen… Entspricht das auch Ihrer Erfahrung?

Brettschneider: Das Straftatenaufkommen in Hessen ist seit mehreren Jahren rückläufig und die Aufklärungsquote sinkt. Durch unsere subjektive Wahrnehmung, bedingt durch die schnelle Verbreitung spektakulärer Fälle in den Medien, nehmen wir natürlich auch jeden Fall wahr, wodurch wir der Meinung sind, dass alles schlimmer wird. Die Anzahl der gemeldeten Gewaltdelikte variiert von Jahr zu Jahr nur minimal. Ein dauerhafter Anstieg ist nicht festzustellen.

Gleichwohl ist festzustellen, dass der Anteil minderjähriger (unter 21 Jahren) Tatverdächtiger seit Jahren um die 30 Prozent am Gesamtstraftatenaufkommen beträgt. Minderjährige Tatverdächtige sind bei Gewaltdelikten überproportional als Tatverdächtige vertreten. Eine große Rolle spielt dabei auch der Konsum von Alkohol, welcher die Täter aggressiver und hemmungsloser macht, was sich in der Art der Gewaltausübung zeigt. Eintreten auf am Boden liegende Gegner kommt vermehrt vor.

CJD-UPDATE: Der Mord von München-Solln hat eine heftige politische Diskussion ausgelöst. Die einen fordern härtere Strafen, andere verlangen mehr Sozialarbeiter loszuschicken. Wie sollte der Staat auf diese Gewalt reagieren?

Brettschneider: Diese Frage betrifft ein gesamtgesellschaftliches Problem. Mehrere Bereiche, zum Beispiel Polizei, Justiz und Politik, sind hier gefragt. Alle sollten zusammenarbeiten und gemeinsam reagieren. Sehr wichtig ist hierbei, dass bei jugendlichen Tätern eine schnelle Ahndung herbeiführt wird. Die Strafe an sich sollte aber immer der Tat und dem Täter angemessen sein. Populistische Aussagen oder Forderungen sind hier wenig hilfreich.

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Die Ärzte – Schrei nach Liebe

CJD-UPDATE: Das Gewaltpotential unter und mit Jugendlichen teilt sich grob ein in Auseinandersetzungen mit und zwischen (1) Rechts- bzw. Linksradikalen; (2) sozialen Randgruppen; (3) Jugendlichen mit Migrationshintergrund. Wo liegen im Landkreis Schwalm-Eder die Schwerpunkte?

Brettschneider: Die aufgezählten Gruppen spielen bei der Frage des Gewaltpotentials schon eine Rolle. Wie zuvor schon erwähnt, spielt aber auch die Örtlichkeit – etwa Kirmesveranstaltung – und Alkohol eine Rolle. Auch Personen, welche keiner der genannten Gruppen angehören, verüben im alkoholisierten Zustand Gewaltdelikte oder begehen Sachbeschädigungen. Wie man den Medien entnehmen kann, haben wir momentan einen Schwerpunkt mit einer rechten Gruppierung. Mitglieder dieser Gruppierung treten bei größeren Veranstaltung auf und verüben, zumeist im angetrunkenen Zustand, Gewalttaten gegen andere Personen oder wie zuletzt gegen einschreitende Polizeibeamte. Weitere Schwerpunkte sind alle größeren Veranstaltungen mit Alkoholausschank, bei denen Jugendliche und junge Erwachsene zu den Gästen zählen.

CJD-UPDATE: In den Schulen sind seit einiger Zeit Streitschlichterprogramme der Renner. Schlagen sich diese Bemühungen bereits positiv in der Kriminalstatistik des Landkreises nieder?

Brettschneider: Leider ist die Auswirkung von Präventionsprogrammen und Veranstaltungen nicht wirklich messbar. Ich persönlich bin aber davon überzeugt, dass solche Programme sehr hilfreich sind und auch etwas bewirken. In verschiedenen Programmen der Schulen sowie der Polizei geht es darum, einen Streit schon möglichst frühzeitig zu schlichten, bevor dieser eskaliert. Geschulte junge Menschen könnten durch ihr überlegtes und couragiertes Verhalten viel dazu beitragen, dass Gewalt nicht entsteht oder nicht eskaliert. Die Polizei bietet hier das Programm „Cool sein – cool bleiben“ an und engagiert sich in dem „Pit“-Programm (Prävention im Team). Rückmeldungen von Schulen und Schülern an mich persönlich ergaben, dass sich Präventionsveranstaltungen positiv auswirken. Wenn Kinder und Jugendliche über bestimmte Gefahren, Probleme oder gesetzliche Regelungen aufgeklärt werden, führt dies dazu, dass sie die Inhalte der Veranstaltungen für sich persönlich umsetzen.

Interview/Gestaltung: Andreas Bubrowski

  1. Am 19. September 2009 wurde Dominik Brunner bei dem Versuch, in der Münchener S-Bahn bedrängten Jugendlichen beizustehen, selbst von den Angreifern attackiert und dabei schwer verletzt. Er erlag wenig später seinen Verletzungen.
  2. Songtext IF YOU TOLERATE THIS

    The future teaches you to be alone
    The present to be afraid and cold
    So if I can shoot rabbits
    Then I can shoot fascists

    Bullets for your brain today
    But well forget it all again
    Monuments put from pen to paper
    Turns me into a gutless wonder

    And if you tolerate this
    Then your children will be next
    And if you tolerate this
    Then your children will be next
    Will be next
    Will be next
    Will be next

    Gravity keeps my head down
    Or is it maybe shame
    At being so young and being so vain

    Holes in your head today
    But Im a pacifist
    Ive walked la ramblas
    But not with real intent

    And if you tolerate this
    Then your children will be next
    And if you tolerate this
    Then your children will be next
    Will be next
    Will be next
    Will be next
    Will be next

    And on the street tonight an old man plays
    With newspaper cuttings of his glory days

    And if you tolerate this
    Then your children will be next
    And if you tolerate this
    Then your children will be next
    Will be next
    Will be next
    Will be next