Von Jakob Kneisler (PTZ)

Das CJD auf dem BVL-Kongress. Foto: privat
Das CJD auf dem BVL-Kongress. Foto: privat

Erfurt – Vom 9. bis 11. Mai fuhr das gesamte Legastheniezentrum zusammen mit dem Fachvorstand Deutsch, Eike Willius-Herbold, Teilnehmern der Tagesgruppe und der Verantwortlichen für die schulische Legastheniebetreuung, Kerstin Appel, zum 18. Bundeskongress des Bundesverbandes Legasthenie nach Erfurt. Der Leitgedanke hieß diesmal „Legasthenie und Dyskalkulie: Übergänge gestalten – von der frühen Kindheit bis ins Erwachsenenalter“.

Übergangsphasen sind Unruhephasen. Sie reißen jemanden aus dem gewohnten und vertrauten Umfeld heraus. Sie fordern eine Auseinandersetzung mit neuen Situationen, neuen Menschen, neuen Tatbeständen; das Gewohnte löst sich auf, das Unsichere verschafft sich Platz. Bewährte Stützen brechen weg. Man ist auf sich selbst zurückgeworfen, ist mit sich konfrontiert: wie man sich geben wird, auf wen man trifft, wie man performt. Man existiert zwischen Ohnmacht und Gestaltung, zwischen Waren und Werden.

Übergänge tragen zwar auch stets Hoffnungsmomente in sich, dennoch zwingen sie zu enormen Kraftakten, um erneut einer Komfortzone einen Grund zu legen, auf dem man sich sicher bewegen kann. Sicher, das ist das Schlagwort. Das bedeutet neben alldem, was dazu gehört, für einen Legastheniker auch die Zusatzaufgabe anzugehen des jeweiligen Legasthenieumgangs durch den jeweiligen neuen Gegenüber/Institution herauszufinden – welche Bestimmungen jeweils gelten, welche Erlasslage besteht, welche Einstellungen vorherrschen, welche Fördermaßnahmen initiiert werden müssen, wie Berufsschulen als auch Hochschulen mit Legasthenie umgehen, welche rechtlichen Rahmenbedingungen existieren; sprich welche Rechten und Pflichten hat ein Legastheniker. Letztendlich bleibt die Teilleistungsstörung lebenslanger Charakterbildungsstachel.

Die Vermittlung neuester Erkenntnisse in der Legasthenieforschung präsentierten u.a. Karin Kucian, Daniel Ansari und auch Gerd Schulte-Körne, diesmal in ihren spezifisch medizinischen Erkenntnissen. Dementsprechend waren ihre Vorträge geprägt von medizinischem Jargon als auch theoretischer Grundlagenforschung auf neuronaler und genetischer Stufe. Formal handelte es sich bei den Vorträgen und Workshops um die biografischen Übergänge der Betroffenen, was aber würde passieren, wenn wir den Gedanken des Übergangs auf den Entwicklungsprozess des einzelnen Betroffenen übertragen? Dann würde sich die Frage ergeben, wie wir dem Einzelnen begegnen und helfen, denn schließlich geht es darum, den Übergang zu schaffen von einem irritierten Betroffenen zu einem integrierten Lebenskonzept zu verhelfen. Dies ist wiederum eine Leistung des Gegenübers, nicht mehr des Betroffenen selbst.

Beschäftigt sich also ein Nicht-Betroffener mit einem Betroffenen, wird auch er automatisch in einen Übergangsprozess gesogen und ist dementsprechend gezwungen, eine Entscheidung zuzulassen, ob auch er – der Nicht-Betroffene – sich verändern lassen möchte. Was also ist der Übergangsprozess, wie wird er ausgelöst, welche Phasen werden durchlaufen, welchen Stellenwert haben tatsächlich Lese-, Schreib- und Rechenfertigkeiten, welche Kompensationsstrategien helfen einem? Diese praktischen Teile der Fragen beantworten die Therapeuten täglich, den formal-theoretischen beantwortete der Kongress zielgerichtet.