Schüleraustausch: Leben und Lernen wie Gott in Frankreich?
Von Vera Helbig (Jahrgangsstufe 11)
Autorin und Uldrax im Schlamm
Bild: Vera Helbig
Motto: Nicht „ein Hut, ein Stock, ein Regenschirm“, «Beret, Baguette, Rotwein» oder Deutschland und Frankreich – wo ist da der Unterschied?
„Wuff-Wuff!“ An-der-Leine-zerr. Ich mach die Tür auf. «À tout à l’heu—!» Schwupp, da bin ich auch schon weg. Mein Hund zerrt mich spazieren. «Hé-ho! M’enfin, DOUCEMENT!» Hm, warum spreche ich eigentlich französisch? Und geh Gassi, wo ich doch gar keinen Hund besitze? Ganz einfach; ich bin nicht bei mir zuhause. Noch nicht einmal in Deutschland. Ich bin in Frankreich. Auf meinem Schüleraustausch mit Voltaire für ein halbes Jahr. Und dieses halbe Jahr ist nun schon fast vorbei…
Die Leute sind hier fast wie in Deutschland – FAST
Ich stapfe durch den Schlamm der Feldwege, während Uldrax, der weiße Labrador meiner Gastfamilie jede noch so braune Pfütze mitnimmt. Schon bald sieht er eher grau-braun als weiß aus. Um mich steht’s nicht viel besser. Ich denke an den Anfang und meine Erwartungen an Frankreich zurück und grinse. Ein Land voller Beret-tragender, romantischer Franzosen? Ne! Die Leute sind hier fast genauso wie in Deutschland. „Fast,“ denn es gibt doch schon einige Unterschiede zwischen beiden Ländern, die ich nicht erwartet habe. Natürlich hab ich dabei nicht ganz Frankreich im Blick, sondern nur eine Ecke im Norden. Die Region Nord-pas-de-Calais, wo ich jetzt für knapp sechs Monate gewohnt habe.
Copyright: www.nordpasdecalais.fr
Allein das Aussehen der Orte erinnert doch viel mehr an Italien als an Deutschland; Oberleitungen, fast alle Häuser aus Back- oder Sandstein, Blumendeko en masse und (was mir ziemlich aufgefallen ist) viele Verkehrskreisel. Und die sind ganz unglaublich bepflanzt, zum Teil mit Gärten oder richtigen kleinen Parks! Und es gibt ziemlich wenige Wegweiser. Auch die Schulen sind anders, nicht nur die Unterrichtsmethodik sondern auch das Schulsystem.
Nach der Grundschule kommt nämlich erst mal auf das „Collège,“ das nach der neunten Klasse mit dem brevet (sozusagen der Vorgänger vom Abi=Bac) abgeschlossen wird. Anschließend kommt man auf das Lycée, in dem es dann nur noch die letzten drei Klassenstufen, seconde, première und terminal gibt. Und man spezialisiert sich, Richtung Physik/Mathematik, Literatur, Kommunikationswissenschaften oder Politik/Wirtschaft. Zusätzlich gibt es noch weitere Optionen, zum Beispiel „AbiBac,“ was mein Austauschschüler macht (eine Mischung zwischen Bac und Abi, also zum Teil auf Deutsch), Hispabac (das gleiche auf Spanisch), Spezialitäten-Sprachen, bei denen man in einer Fremdsprache gefördert wird, und noch viel mehr.
Leiser als in Deutschland, dafür aber auch dreister
Ich bin in einer „1ere L,“ die mittlere Klassenstufe im Zweig „Literatur.“ Als Option habe ich Spanisch, was mir sehr gut gefällt. In Frankreich gibt es eine größere Auswahl an Sprachen, neben Englisch (worin die Franzosen ihren Akzent einfach nicht loswerden!) und Latein kann auch Deutsch, Italienisch und Spanisch erlernt werden. Außerdem gibt es auch zeitweise Unterricht in andren Fächern, die es bei uns nicht gibt, beispielsweise Philosophie. Bei aller Begeisterung für die Fächerauswahl ist allerdings zu sagen, dass die Unterrichtsmethodik nicht immer durchschlagend ist. Es gibt viel Frontalunterricht mit vielen Exempeln des Lehrers und wenig Denken für das Schülerhirn (was außerhalb von Arbeiten und Hausarbeiten natürlich ganz angenehm ist… ). Ansonsten sollte ich vielleicht noch sagen, dass das autoritäre Bild der französischen Schule in Sachen Disziplin nicht wirklich zutrifft, die Schüler sind zwar teilweise (!) viel leiser als wir in Deutschland, aber dafür auch insgesamt dreister.
Das Klischee von autoritärer Erziehung stimmt da schon eher, aber das ist natürlich von Familie zu Familie unterschiedlich. Und was die Einbeziehung höher gesetzter Autoritäten bei Entscheidungen anbelangt, so finde ich es in Deutschland doch ziemlich gut, dass man nicht für alles eine Genehmigung oder den Ratschlag eines Lehrers einholen muss. An dieser Stelle muss ich auch gleich mal einen Irrtum aus der Welt schaffen; die deutsche Bürokratie und Zettelwirtschaft ist nicht einzigartig.
Es gibt hier wenig Bargeld
Auch in der Domäne „Geld“ sieht es hier in Frankreich ein bisschen anders aus. Hier ist alles teurer als in Deutschland (viele Franzosen gehen sogar um ihr Auto zu kaufen nach Deutschland), besonders die Nahrungsmittel und Milchprodukt, die der durchschnittliche Franzose ja tagtäglich zumindest in Form von Käse zu sich nimmt. Und da die Esskultur (ich sage nur: „Gänge“) eben auch noch ausgeprägter ist, musste sich letztes Weihnachten ein Grossteil der Bevölkerung Frankreichs zwischen Geschenken und Festessen entscheiden, was ich ziemlich schade finde. Weihnachten wird übrigens weniger gefeiert als in Deutschland, aber dafür ist Sylvester die Feier des Jahres schlechthin.
Frankreich-Klischee: Schlemmen pur. Bild: Vera Helbig
Was in Sachen Geld hier auch anders ist (damit könnte man ein neues Klischee erschaffen!); man trifft her keinen (erwachsenen) Franzosen ohne Scheckbuch. Es gibt hier wenig Bargeld, alles wird mit Schecks geregelt, selbst relativ kleine Beträge wie 15 oder 20 Euro. Der 500-Euro-Schein existiert hier auch praktisch gar nicht (abgesehen davon, dass er eh nur für die Deutschen produziert wurde). Essen und Bäckerein-Konditoreien passen jedoch genau ins Klischeebild; in meiner Gastfamilie essen wir jeden Abend vier Gänge (Suppe-Hauptgericht-Käse/Baguette/Salat-Dessert) und in der Schulkantine mittags auch vier (Suppe-Entrée-Hauptgericht-Dessert). Dafür halten sich die Franzosen genau an die Essenzeiten, das Zwischendurch-mal-kurz-was-essen ist eher typisch deutsch.
In Sachen Beziehungen ziemlich abwechslungsfreudig
Um noch einmal auf die Schule zurück zu kommen; die Rahmenzeiten sind, anders als in Deutschland, von 8.30 Uhr bis 17.30 Uhr, bei 55 Minuten pro Schulstunde und einer Essenspause von gleicher Länge. Aber kein Franzose hat täglich so viel Unterricht. Das Ganze ist ähnlich unserem Oberstufensystem mit Freistunden zwischendurch, mal früher Schluss, mal später Anfang. Es gibt auch noch die Klassenverbände bis zum Schluss, aber durch die unterschiedliche Fremdsprachenbelegung hat man nicht immer zusammen Unterricht. Meine französischen Mitschüler habe ich alle als ähnlich den deutschen erlebt, nur in Sachen Beziehungen sind sie ziemlich abwechslungsfreudig…
Techtonique statt Hip-Hop
Und noch etwas ist anders als in Deutschland: der Massenmusikgeschmack ist eher Rock als Pop und getanzt wird weniger Hip-Hop als viel mehr „techtonique,“ was man wirklich mal gesehen haben muss. Ich lasse die Arme sinken, mit denen ich grad noch mal eine dieser verdrehten Techtonique-Bewegungen ausprobiert hab, so wie es Coralie in der Schule gezeigt hatte. Ich schau mich um. Abgesehen von dem Hund, der immer noch in jedes Schlammloch begeistert reinspringt, Felder, ein kleines Wäldchen und Annoeullin, das Städtchen, in dem ich wohn. Aber keine Nika. Mit ihr wollt ich heut eigentlich noch mal den letzten Spaziergang machen. Ah, aber dort kommt sie. „Salut!“ bisou rechts, bisou links. Auch ein zutreffendes Klischee. (wird fortgesetzt)
Linksunten:
Region Nord-pas-de-Calais (Offizielle Website)
(Gestaltung: Andreas Bubrowski)
Kommentare
[…] Helbig a passé six mois dans un lycée d’une ville du département Nord Pas de Calais: > Schüleraustausch: Leben und Lernen wie Gott in Frankreich?. Son récit > Schüleraustausch: Vive la France – mein Frankreich, meine Freunde, meine Familie […]
Was ist denn mit TOKIO HOTEL? Man hört hier, dass französische Kids ganz wild nach dieser „Gruppe“ sind, und deswegen sogar anfangen DEUTSCH zu lernen. STIMMT DAS? Oder ist das nur ein PR-Gag der Musik-Industrie? Vielleicht gilt das nur für die Vorschulkinder… ;))