Mit einem Lied von Reinhard May im Ohr: „Ein Stück Musik von Hand gemacht“

Kreidestaub an den Fingern. Bild: Andreas Bubrowski
Kreidestaub an den Fingern. Bild: Andreas Bubrowski

Strahlensätze. Zentrische Streckung eines Dreiecks. Sagen wir um den Faktor 1,25. Skalierungsstrahl zeichnen mit fünf gleichen Abschnitten. Hilfslinien ziehen. Und dann Parallelverschiebung durchführen. Drei mal. Jedem Originalpunkt auf diese Weise ein Bild zuordnen. Im Hefter und noch mehr an der Tafel ein einziges Gefuchtel mit Geodreieck und Lineal. Mancher braucht zwei oder drei Ansätze. Fluchen – irgendwo. Doch am Ende zeichnet sich aus dem Linienwirrwarr wie magisch ein Dreieck ab, exakt eineinviertel Mal so groß wie das Original. Freude bereitet sich im Herzen aus. Stolzes Grinsen im Gesicht. „War gar nicht so schwer“, sagt jemand. Die an der Tafel müssen sich den Kreidestaub von den Fingern wischen. Und alles funktioniert – um mit Reinhard Mey zu sprechen – auch am Ende der Welt und ohne Strom. Man könnte ergänzen: und ohne WLAN oder LAN-Kabel.

ICH BIN ES!

Neulich beim x-ten PISA-Test. Schüler sollten versuchen, anhand der Bedienanleitung eines Fahr­kartenautomaten ein möglichst günstiges Ticket zu ziehen. Viele Schüler scheiterten wohl daran. Im Lied von Reinhard Mey geht es um ein notgedrungenes Schwarzfahren, weil man es nicht schafft, das Ticket schließlich zu entwerten. Was aber, wenn das Problem jeweils weniger vermeintlich unfähige Menschen VOR der computerisierten Technik sind, sondern die allgegenwärtigen Computer selbst?

Ein Stück Musik von Hand gemacht (live)1

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© Reinhard Mey

Mathematik von Hand gemacht kann wie Nahrungsaufnahme sein. Nahrung guckt man ja auch nicht nur an. Die „erfasst“ man erst und verdaut sie danach. Nur so weiß man schließlich, wie sie schmeckt und ob und wie sie nährt. Eine händische Konstruktion, die mich zwingt, mit ruhiger Hand den (zuvor gespitzten) spitzen Bleistift mit Bedacht an Geodreick und Lineal anzulegen, lässt mich mit allen Sinnen das Prinzip der Konstruktion SELBST erleben. Es ist kein Prozessor eines unter menschenverachtenden Bedigungen in China gefertigten Computers, der gemäß meiner Wischerei auf seinem Display mir das zuvor programmierte Abbild einer Konstruktion virtuell (Reinhard Mey: Fertigträume aus der Traumfabrik) auf die Wischfläche projiziert. ICH BIN ES! Dieses ICH-BIN-ES (Schülern im Lernen) freudvoll erlebbar zu machen, ist durch keine virtuelle Projektion, mag sie auch noch so traumhaft anschaulich sein, zu ersetzen. ANDREAS BUBROWSKI

Linksunten: www.reinhard-mey.de

  1. SONGTEXT

    Zur Blütezeit der Fast-Food-Zivilisation,
    Der Einheitsmeinung, der Geschmacksautomation,
    Der Plastikgefühle und der High-Tech-Lust,
    Der Wegwerfbeziehung mit dem Einweg-Frust,
    Zur Zeit der Fertigträume aus der Traumfabrik,
    Der Micky-Maus-Kultur und der Steckdosenmusik.

    Da lob‘ ich mir ein Stück Musik von Hand gemacht,
    Noch von einem richt‘gen Menschen mit dem Kopf erdacht,
    ‘ne Gitarre, die nur so wie ‘ne Gitarre klingt,
    Und ‘ne Stimme, die sich anhört, als ob da jemand singt.
    Halt ein Stück Musik aus Fleisch und Blut,
    Meinetwegen auch mal mit ‘nem kleinen Fehler, das tut gut,
    Das geht los und funktioniert immer und überall,
    Auch am Ende der Welt, bei Nacht und Stromausfall!

    Wenn der große, wilde Rock‘n Roller rockt und rollt,
    Mit der Wahnsinnslasershow über die Bühne tollt,
    Wenn die Lautsprecher dröhnen und das Hallendach schwingt,
    Daß mir der Bruch raustritt und die Brille springt,
    Dann denk‘ ich d‘ran, daß, wenn jetzt jemand an der Sich‘rung dreht,
    Der Rockstar mucksmäuschenstill, lammfromm und im Dustern steht.

    Da lob ich mir ein Stück Musik von Hand gemacht,
    noch von einem richt’gen Menschen mit dem Kopf erdacht.
    ’ne Gitarre die noch wie eine Gitarre klingt
    und ’ne Stimme die sich anhört als ob da einer singt.
    Halt ein Stück Musik aus Fleisch und Blut,
    meinetwegen auch mal mit ’nem kleinen Fehler, das tut gut.
    Das geht los und funktioniert immer und überall,
    auch am Ende der Welt, bei Nacht und Stromausfall.

    Wenn ich den Selbstentwerter im Omnibus
    Nicht bedienen kann und wieder schwarzfahr‘n muß,
    Wenn die Wasserwerke mir den Hahn zudreh‘n,
    Weil ich‘s nicht lerne, die Computerrechnung zu versteh‘n,
    Wenn ich einseh‘n muß, ich krieg‘ den HiFi-Turm nicht an,
    Weil ich die Einschaltautomatik nun mal nicht einschalten kann.

    Da lob ich mir ein Stück Musik von Hand gemacht,
    noch von einem richt’gen Menschen mit dem Kopf erdacht.
    ’ne Gitarre die noch wie eine Gitarre klingt
    und ’ne Stimme die sich anhört als ob da einer singt.
    Halt ein Stück Musik aus Fleisch und Blut,
    meinetwegen auch mal mit ’nem kleinen Fehler, das tut gut.
    Das geht los und funktioniert immer und überall,
    auch am Ende der Welt, bei Nacht und Stromausfall.

    Bis zum Tag, an dem man mich wegrationalisiert,
    Oder als nicht programmierbar einfach aussortiert,
    Wenn der große Rechner kommt und alles überwacht,
    Meine Vorlieben und Macken voll erfaßbar macht,
    Auch wenn ich schon ganz und gar maschinenlesbar bin
    Mit ‘nem Balkencode am Schniedel und ‘ner Prüfziffer am Kinn.

    Da lob ich mir ein Stück Musik von Hand gemacht,
    noch von einem richt’gen Menschen mit dem Kopf erdacht.
    ’ne Gitarre die noch wie eine Gitarre klingt
    und ’ne Stimme die sich anhört als ob da einer singt.
    Halt ein Stück Musik aus Fleisch und Blut,
    meinetwegen auch mal mit ’nem kleinen Fehler, das tut gut.
    Das geht los und funktioniert immer und überall,
    auch am Ende der Welt, bei Nacht und Stromausfall.