Von Jakob Kneisler

Prof. Tiemo Grimm. Foto: privat
Prof. Tiemo Grimm. Foto: privat

Zu einer Infoveranstaltung zum Thema „Ursachen und Folgen von Legasthenie“ mit dem Würzburger Humangenetiker Prof. Dr. med. Tiemo Grimm lud die Jugenddorf-Christophorusschule Oberurff Betroffene und interessierte Zuhörer ein. Im Fokus stand dabei in einem ersten Teil die wissenschaftlich-human­genetische Betrachtung der Ursachen von Legasthenie. Prof. Grimm verwies auf vier gesicherte Genvariationen an verschiedenen Genomen. Darauf aufbauend verband er die wissenschaftlichen Erkenntnisse mit den eigenen Erfahrungen; zum einen zeigte er auf, dass Legasthenie vererbbar und damit nicht auf Versäumnisse oder mangelnde Intelligenz zurückzuführen sei. Er führte diesen Faktor anhand der eigenen Familienchronik über fünf Generationen vor.

Möglichkeiten und Entwicklungskapazitäten
eines Legasthenikers

Doch nicht das Aufzeigen und Sehen entwickelte sich zum zentralen Aspekt, sondern die Frage nach den Möglichkeiten und Entwicklungskapazitäten eines Legasthenikers: Familie Grimm weist inzwischen drei Mitglieder mit einem Doktortitel und einen umsatzstarken Schriftsteller auf. Keineswegs unterschlug Prof. Grimm dabei den Anwesenden den teils langen und steinigen Weg vom eigenen Verdacht über die gesicherte Diagnose, die Grundvoraussetzung einer Anerkennung der Legasthenie und damit verbundenem Förderanspruch ist, bis hin zur entsprechenden Förderung.

So entwickelte sich aus einem wissenschaftlichen Frontalkurs eine Gesprächsatmosphäre, in der es um die persönlichen und schulischen Erlebnisse und Erfahrungen des Einzelnen ging. Schließlich stand nicht die Wissensvermittlung durch einen angesehenen Humangenetiker im Vordergrund, sondern die aktive Ermunterung Betroffener, um weitere Handlungsspielräume zu initiieren. In der folgenden offenen Diskussion, zu der sich Dr. Grimm den langjährigen Leiter des Legasthenie­zentrums Dipl. Psych. Reinhold Komnick und Annette Uhlén – Leiterin der Legasthenieakademie des CJD Oberurff – hinzuholte, wurde immer wieder betont, dass man sich nicht mit dem derzeitigen offiziellen hessischen Legasthenieerlass zufrieden geben dürfe, da dessen Umsetzung auch weiterhin noch immer unzureichend umgesetzt würde. Prof. Grimm stellte die provokante Frage, ob und warum jemand nachträglich für eine entwicklungsbiologische Tatsache benachteiligt werden dürfe. Noch viel zu häufig finde eine Aburteilung des Legasthenikers statt. Dazu komme erfahrungsgemäß häufig hinzu, dass schulische und außerschulische Förderkurse zwar stattfänden, diese aber einen nicht professionellen Charakter aufwiesen, also beispielsweise von Laien geleitet würden, fragwürdige Förderansätze hätten oder schlicht als zusätzlicher Deutschkurs aufgezogen würden.

Was passiert, wenn kein entsprechender Umgang mit den Betroffenen und ihrer spezifischen Lernstörung, also der Legasthenie, erfolgt, konnte Prof. Grimm ebenfalls drastisch vor Augen führen: 40 Prozent kämpften mit psychischen Problemen und 25 Prozent gar mit Straffälligkeit. Bei geschätzten fünf Prozent Legasthenikern mache dies eine untragbare gesamtgesellschaftliche Belastung aus, so Grimm.