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Die dünnen Mädchen – Essstörung – Doku © Aboxfullofvideos/YouTube

Manchmal müssen sich schlanke Schülerinnen von mutmaßlich neidischen Mitschülerinnen necken lassen: Bist du magersüchtig? Das ist so unsinnig und gemein, als ob ein schlankes Mädchen zu einem „weniger schlanken“ sagen würde: Bist du „fettsüchtig“? Magersucht, Essstörung oder Anorexie ist zudem nicht auf Schlanke beschränkt. Die Gefahr einer Anorexie ist auch erst zu vermuten, wenn jemand in kurzer Zeit erkennbar immer dünner wird. Dann muss man darüber reden.

Ich getraute mir die Frage: Wie konnte das passieren?

Magersucht – man muss darüber reden! – lautet der Titel eines Artikels aus 2008. Eine leistungsstarke Schülerin aus einer meiner damaligen Klassen des Gymnasiums war lange Zeit im Krankenstand. Eines Tages war sie wieder da. Zufällig gab es in der Pause eine Gelegenheit zum kurzen persönlichen Gespräch. Ohne sie direkt nach dem Grund des Krankenstandes befragt zu haben, ließ sie mich wissen, dass sie an Magersucht erkrankt war und sich wochenlang einer klinischen Behandlung zu unterziehen hatte. Ich war völlig schockiert. Zumal sie mir weder vor ihrer Krankheit noch jetzt als „dünn“ auffällig erschien. Sie war aktive Leistungssportlerin bei den Triathleten. Unter anderem weil sie dort nicht mehr mithalten konnte, so ihr Bericht, sei die Magersucht überhaupt erst aufgefallen. Als nur Fachlehrer war ich zunächst überfordert, wie ich mit der Information am besten umzugehen hätte. Ich getraute mir die Frage: Wie konnte das passieren? Sie: „Ein Junge aus meiner Klasse hatte mich beiläufig angeschnauzt, ich würde einen fetten Arsch haben. Das war der Auslöser.“ Die Schülerin hatte ihre Magersucht wirklich auskuriert. Sie erlangte in Oberurff ihr Abitur und soll inzwischen ein Lehramtsstudium erfolgreich absolviert haben. Alles ist also gut geworden.

Zufälligerweise lief damals zeitgleich auf Arte die Doku Die dünnen Mädchen. Beim Herumzappen darauf gestoßen, hatte ich den Anfang verpasst und dann auch noch vergessen mitzuschneiden. Die Doku war spannend wie ein Thriller und zugleich zutiefst berührend. Die Info zur Doku bringt es auf den Punkt:

Die dünnen Mädchen, das sind acht junge Frauen zwischen 18 und 29 Jahren, die seit langem an Essstörungen leiden und versuchen, diese zu bekämpfen. Sie haben gehungert bis zur Selbstauflösung und können nicht einfach damit aufhören. Diagnose: Magersucht. Die Krankheit frisst sich in ihr Leben – bis zur vollständigen Machtübernahme. Maria Theresa Camoglios Film dokumentiert, wie die jungen Frauen wieder eine Beziehung zu ihrem Körper aufbauen, um damit auch die Kontrolle über ihr Leben zurückzugewinnen.

Einige der jungen Frauen gewähren vor der Kamera Einblick in ihre leidende Seele. Einige hatten erste Bulimie-Erfahrungen mit zehn Jahren, also einem Alter, in dem sich etwa unsere Fünftklässler befinden. Bei anderen ging es in der Pubertät los. Wie sich zeigt, kann der Mangel an liebevoller Respektierung und Würdigung der reifenden Persönlichkeit vor allem durch den Vater eine fatale Rolle spielen. Unter anderem deswegen sollten sich Väter die Doku „prophylaktisch“ ansehen, auch wenn deren Tochter/Töchter scheinbar mit Magersucht nichts zu tun haben. Ich beantragte in der Schulbibliothek die Anschaffung der Doku auf DVD. Doch es war wie verhext. Bibliotheks-Chefin Dagmar Bürling setzte Himmel und Hölle in Bewegung – doch weder gab es eine DVD, noch ließ sich eine autorisierte Kopie der Doku organisieren. Die Doku war wie vom Erdboden verschwunden. „Zufällig“ jedoch – beim „Zappen“ auf YouTube – fand sich neulich das Video zur Doku. Magersucht ist Ausdruck eines leidenden Seelenzustandes. Aber nicht jeder leidende Zustand bricht sich als Symptom „Magersucht“ die Bahn. Und auch Jungen sind nicht davor gefeit. Es lässt sich daher annehmen, dass die Doku eine weitergehende Relevanz besitzt. Eine der jungen Frauen aus der Doku hat ein „Rezept zur Magersucht“ verfasst. Ein Text, sowohl mit einem ironisch lächelnden Augenzwinkern, als auch mit Tränen in den Augen verfasst…

„Rezept“ zur Magersucht

(ab 46:09)

Voraussetzung: eine Person mit geringem Selbstbewusstsein, stark ausgeprägten perfektionistischen Zügen, außerdem einer hohen Sensibilität und einem hohen Maß an Außenorientierung. Kurzum, eine Person, die bereit ist, ihr Leben über Bord zu werfen.

Zutaten: Man nehme ein gutes Pfund übertriebene Selbstkontrolle und lasse diese mit einer Briese Zeitdruck aufkochen. Dann füge man eine große Portion Sport hinzu und lasse sie unter Rühren aufkochen. Nun kräftig mit Gedanken um Essen, Kalorien und Rezepte nachwürzen. Aber Achtung! Keinesfalls abschmecken. Bitte bedenken sie, dass sie nur biologisch angebaute, organisch wertvolle, möglichst laktosefreie Produkte verwenden.

Zubereitung: Zehn Kniebeugen sechs Uhr morgens. 6.30 Uhr Frühstück, drei Tassen schwarzer Kaffee mit 30 Tabletten Süßstoff. Im Stehen. 7.30 Uhr – der Weg zur Schule. Bloß nicht zu langsam laufen. Bloß nicht zu dick angezogen sein. Auf dem Weg zehn Kniebeugen nicht vergessen. Um lästigen Fragen bezüglich des Magenknurrens aus dem Wege zu gehen, sollte man stets Kaugummis verwenden. 16 Uhr – der Weg zurück nach Hause. Achtung! Im weiteren Verlauf des Tages sollte Kontakt zu anderen menschlichen Individuen vermieden werden, da das tägliche Sportprogramm beeinträchtigt werden könnte. 17 Uhr – Sportprogramm. Zwei Stunden Joggen sind Pflicht. 20.30 Uhr – nach der täglichen Kalorienration von einem halben Apfel und zehn weiteren Kniebeugen, ist es Zeit ins Bett zu gehen. Denn eine Anorexie-Patienten benötigt einen strikten Tagesablauf. (Quelle: Doku)

ANDREAS BUBROWSKI